Im Jahr 1752 berichtet der Flötenlehrer Friedrichs II. v. Preußen, Johann Joachim Quantz erstmals von einer Improvisation in Gestalt einer willkürlichen Auszierung, welche von einer concertirenden Stimme, beym Schlusse des Stücks, über der vorletzten Note der Grundstimme, nämlich über der Quinte der Tonart woraus das Stück geht, nach dem freyen Sinne und Gefallen des Ausführers gemacht wird.
In diesem freyen Sinn und im Auszieren einer niedergeschriebenen Solopartie besteht schon seit dem 17. Jahrhundert die entscheidende Kompetenz musikalischer Solisten, und die spontane Variantenbildung zu aufgeschriebener Musik macht im Übepensum von Musikern einen Löwenanteil aus.
Selbst Komponisten verließen die schriftlich niedergelegte Form ihrer Komposition, sobald sie eine Bühne betraten, und Wolfgang Amadeus Mozart äußert sich einmal schwer enttäuscht über einen Sänger, der Ton-für-Ton Mozarts komponierter Melodielinie folgte.
Im Geist eines weitreichenden, persönlichen Gestaltungsstrebens verkörpert die improvisierte Kadenz am Ende konzertanter Sätze den Kulminationspunkt von Freiheit und den entscheidenden Prüfstein für die klangrhetorische Überzeugungskraft eines Musikers. Geht das schief (etwa in Gestalt einer schlechten und durchgepeitschten Cadenz), dann bleibt ein Musikereignis im Mittelmaß hängen (und man wünscht sich lieber gar keine [...] Cadenz). Geht das aber gut, dann erhält die Leidenschaft, deren Erregung die Absicht der Arie gewesen, gleichsam noch einen neuen Grad der Stärke.
Ziel des Seminars ist die Erfassung kompositorischer Intentionen und deren Beantwortung durch willkürliche Verzierungen und eine selbst erfundene Kadenz. Dabei ist der Blick auf aufführungspraktische Quellen ebenso wichtig wie die Analyse erhaltener klassischer Kadenzen, das Erlernen melodischer Formeln – und die Überwindung der Angst vor der Unberechenbarkeit einer freien Improvisation. |